Eltern-Kind-Entfremdung in Zeiten von Covid-19

Covid19 und dein entfremdetes Kind

Wir leben gerade in einer noch nie dagewesenen Krisensituation, hervorgerufen durch die Coronaviruspandemie.

Eltern fürchten im Allgemeinen nichts mehr als ihr Kind zu verlieren. Angesichts der Coronakrise bangen viele getrennte Eltern, dass ihnen der Kontakt zum Kind erschwert und verunmöglicht wird. Man bangt um die Gesundheit von Familienmitgliedern. Die Zurückhaltung von Informationen oder das Nichtinformiertwerden über das Wohlergehen und den Gesundheitszustand von Kindern und Angehörigen treibt die Sorge nach oben.

Für entfremdete Eltern gibt es jedoch endlich mal eine „gute Nachricht“: sie sehen ihre Kinder ja sowieso nicht, diese Situation ist bereits bekannt und man konnte schon Überlebensstrategien entwickeln, Strategien für den Umgang mit dieser Situation. Die Sorgen, die man hat, die man sowieso jeden Tag hat, das Nichtwissen, wie es den Kindern geht, sind in der Coronakrise keine neuen Sorgen.

Die allgemeine Krisensituation könnte sogar im Fall von Eltern-Kind-Entfremdung eine (kleine) Änderung der Kontaktlosigkeit bewirken.

Die Chance liegt darin, dass extreme Situationen Änderungspotenzial für Eltern-Kind-Entfremdung haben, existenzielle Sorgen und Ängste, Umbrüche und Veränderungen im Lebenslauf von Kindern können Änderungen in ihrem Verhalten gegenüber dem ausgegrenzten Elternteil auslösen.

Hierzu schreibt Karen Woodall (transgenerational arbeitende Psychotherapeutin mit Spezialgebiet Eltern-Kind-Entfremdungs-Behandlung in London, Leitung der Family Separation Clinic) in einem ihrer Blogartikel, den wir gerne mit freundlicher Genehmigung der Autorin übersetzen und veröffentlichen dürfen, was in der derzeitigen Lage, hervorgerufen durch die Corona-Pandemie bei entfremdeten Kindern passieren könnte. Außerdem geht sie wieder auf den Zustand der psychologischen Spaltung bei entfremdeten Kindern ein, was gut erklärt, wo in der derzeitigen Lage die Chancen für eine Öffnung gegenüber dem entfremdeten Elternteil liegen könnten.

Karen macht Vorschläge, wie sich jetzt der entfremdete Elternteil verhalten könnte. Das schließt an die Erkenntnisse zum Aktiven Warten an, ein Begriff, der von Katharina Behrend geprägt wurde und der Handlungsmöglichkeiten für einen Elternteil beschreibt, der sein Kind gar nicht mehr sieht.

Ein zusätzlicher Link zu einem weiteren Blogpost von Karen Woodall über >>Überlebensstrategien für entfremdete Eltern in der Corona-Krise

Karen Woodall, Blog-Artikel vom 15.03.2020

Dies sind außergewöhnliche Zeiten. Die Fahrt durch London gestern zu unserem Workshop für therapeutische Erziehung fühlte sich unheimlich an. Die Abwesenheit von Menschen, genauso wie die Abwesenheit von Toilettenpapier in den Supermarktregalen, macht etwas mit dem Gehirn, es aktiviert unseren biologischen Überlebenstrieb. Angst ist ansteckend, sie verursacht Beklemmung und Verwirrung, sie zwingt uns in die Abhängigkeit von Überlebensinstinkten. Wenn wir die Abwesenheit von Menschen auf der Straße sehen, dann erinnert uns das daran, dass es etwas zu fürchten gibt.

Vor ein paar Tagen war ich in unserem örtlichen Supermarkt und wartete darauf, meinen Einkauf zu bezahlen, und mein Blick fiel auf die Schlagzeilen am Zeitungsstand.

Viele Familien in Großbritannien werden durch den Corona-Virus ihre Lieben vorzeitig verlieren, warnt Boris Johnson.
Der Premierminister sagt, „die schlimmste Krise des Gesundheitswesens seit einer Generation“ hat das Land im Griff.

Während ich dort stand und darauf wartete, dass die Panik-Käufer ihre Wagen voller Klopapier und Nudeln leerten (Ich konnte nicht recht glauben, aber da war es direkt vor mir, die Leute kauften Toilettenpapier und Nudeln in Massen), fragte ich mich, welche Auswirkungen diese Aussage, die um die Welt gebeamt worden war, auf die Kinder haben würde, die sich bereits selbst von einem Elternteil isolieren, weil sie an Entfremdung leiden.

Ich weiß, wie Entfremdung bei Kindern funktioniert. Es ist ein Abwehrmechanismus, der durch psychologische Spaltung verursacht wird, und der den gesunden Anteil des Kindes hinter einem aus mehreren Teilen bestehenden falschen Selbst verbirgt. Diese Teile des entfremdeten Kindes (die, im Gegensatz zu dem, was anderswo im Internet gesagt wird, nicht dissoziativ sind – also multiple Persönlichkeiten – sondern durchlässige Teile, verursacht durch die traumatischen Auswirkungen des Drucks, den ein Elternteil auf das Kind ausübt) sind seine Art und Weise, mit der unmöglichen Position umzugehen, in die es geraten ist.

Weil ich verstehe, wie entfremdete Kinder sich zwischen diesen Teilen bewegen, weiß ich, dass ein entfremdetes Kind immer einen Anteil hat, der sich des abgelehnten Elternteils bewusst ist, und der sich um diesen Elternteil sorgt und sich nach ihm sehnt. Dieser Teil ist der gesunde Teil, der sich hinter der Abwehrstruktur versteckt. Während dieser Teil die meiste Zeit unbewusst bleibt (der Zweck eines Abwehrmechanismus ist, Dinge unbewusst zu halten, um das Kind zu schützen), kann die Abwehr an bedeutsamen Punkten im Leben eines Kindes schwächer werden oder zerbrechen, und das Kind wird sich seiner Gefühle, der Liebe Sorge und Sehnsucht gegenüber dem zurückgewiesenen Elternteil, voll bewusst.

Die Covid19-Pandemie ist einer dieser bedeutsamen Punkte, und Schlagzeilen, die warnen, dass Familien geliebte Menschen verlieren werden, sind genau die Art von Auslöser, die die Abwehr schwächen und die wahren Gefühlen des Kindes zum Vorschein bringen können.

Überall werden wir aufgefordert, aufeinander aufzupassen. Mitten im Hamstern und den Panikkäufen wird uns gesagt, dass unser Überleben von Nächstenliebe abhängen wird, nicht von Gier und Eigennutz. Die Menschen fangen an, an ihre Nachbarn zu denken, an ältere Menschen und an die, die sich selbst isolieren. Neue Verhaltensmuster jenseits der reflexartigen Angst-Reaktion werden zutage treten, und diese werden auf Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung beruhen.

Jetzt ist die Zeit, dein entfremdetes Kind wissen zu lassen, dass du da bist, dass es dir gut geht, und dass du an es denkst. Jetzt ist die Zeit, der Elternteil zu sein, der du bist, und deinem Kind zu signalisieren, dass du immer noch hier bist. Wenn du ein Großelternteil bist, ist jetzt die Zeit, deinem Enkelkind zu signalisieren, dass deine Familie um dich herum ist, dich beschützt und an dich denkt. Jetzt ist die Zeit für alle entfremdeten Familien, ihrem entfremdeten Kind zu zeigen, wie gesunde Familienliebe und -fürsorge aussieht.

Denn dein Kind isoliert sich bereits selbst über den Abwehrmechanismus, den zu verwenden es gezwungen wurde. Dein Kind ist bereits abgeschnitten und hilflos, auf seine Sorgen und Ängste zu reagieren und kann nicht die Hand nach dir ausstrecken, um sich zu versichern, dass du immer noch für es da bist. Wenn alles, was du als Elternteil im Moment tun kannst, ist, ihm ein Päckchen Handdesinfektionsmittel zu schicken (falls du noch eines finden kannst), oder einfach eine Mitteilung, die es daran erinnert, sich die Hände zu waschen, sein Gesicht nicht zu berühren, und dass seine Altersgruppe nicht betroffen sein wird, und dass du dich um Oma und Opa kümmern wirst, dann ist das genug. Wenn du das nicht tun kannst, genügt ein Beitrag in den sozialen Medien (ja, sie suchen) über gegenseitiges Kümmern und Familien, die sich gegenseitig unterstützen. Du wirst für diese kleinen Gestern nichts zurückbekommen, aber du wirst deinem Kind die gesunde elterliche Fürsorge geben, die es bekommen würde, wenn es deine Fürsorge nicht aufgrund seines selbstisolierenden Verhaltens blockieren würde.

Du hörst nicht auf, ein Elternteil zu sein, wenn dein Kind sich selbst isoliert, weil es entfremdet ist. Nur weil dein Kind den Abwehrmechanismus verwendet, sein Selbst zu spalten und das auf dich zu projizieren, heißt das nicht, dass du nicht mehr seine Mutter oder sein Vater bist. Alle Verhaltensweisen der Spaltung sind darauf ausgerichtet, dich dazu zu bringen, wegzugehen. Wenn du ihnen gehorchst, befolgst du nur die Wünsche und Gefühle des Elternteils, der das im Kind verursacht hat, eines Elternteils, der sich mehr um seine eigenen Gefühle kümmert als um die des Kindes, eines Elternteils, der keine gesunde Fürsorge geben kann. Damit bleibt das entfremdete Kind ohne jegliche gesunde Elternfürsorge. An zweite Stelle gesetzt hinter die Bedürfnisse des Elternteils, der das verursacht, wird dein Kind in eine Abwehrhaltung gezwungen, die deine Fürsorge blockiert. Selbstisolierte, entfremdete Kinder leiden dadurch unter Vernachlässigung ihrer Bedürfnisse. Es ist wichtig, ihnen zu zeigen, dass du noch da bist.

Gestern bei unserem Elternworkshop hörten wir von einem Vater und einer Mutter, die ihre Kinder durch einen Wechsel des Aufenthaltsbestimmungsrechtes wieder in ihrer Obhut haben. Diese Eltern, deren Fälle im Abstand von zehn Jahren verhandelt wurden, erzählten, wie Kinder entfremdet werden und was passiert, wenn sie nach Hause kommen. Diese beiden Eltern hatten sich bis gestern noch nie getroffen, sie leben hunderte Kilometer voneinander entfernt. Jeder von ihnen sprach über den Genesungsprozess, den ihre Kinder vom entfremdeten zum integrierten Geisteszustand durchlaufen haben. Ihre Kinder sind sehr verschieden, aber die Geschichten, die wir hörten, die fast zehn Jahre auseinander lagen, waren unglaublich ähnlich, und der Genesungsprozess des Kindes war fast genau derselbe.

Diese inhaltsreichen Beweise aus dem echten Leben, die uns die Wissensbasis für den Aufbau von funktionierende Behandlungswegen für entfremdete Kinder liefern, zeigen uns, dass sich Kinder in aktiven Entfremdungsphasen auf einer gewissen Ebene immer noch ihrer gesunden Gefühle für den Elternteil bewusst sind, den sie zurückzuweisen gezwungen sind. Die Art und Weise, in der Kinder sich zwischen den durchlässigen Teilen bewegen, die durch die Spaltung des Selbst verursacht sind, erklärt die Art und Weise, in der manche Kinder schnell aus der Entfremdung herauskommen (manche in Sekunden), und die Art und Weise, in der andere einen viel längeren, sehr viel unvorhersagbareren Genesungsweg nehmen.

Vor allem sagen uns diese Fallstudien, dass es in aktiven Entfremdungsphasen entscheidend ist, dass du deinem Kind immer wieder signalisierst, dass du überlebst, denn es wird Zeiten geben, in denen die abgespaltenen Teile des Selbst auftauchen und seine Gefühle für dich verfügbar sind.

Diese Pandemie ist eine solche Zeit, und ich bin der Meinung, dass sich alle entfremdeten Kinder irgendwann in den kommenden Wochen und Monaten Sorgen um dich machen werden und hoffen werden, dass es dir gut geht.

Du bist ihr Vater, ihre Mutter, und in diesen außergewöhnlichen Zeiten ist es wichtig, ihnen zu zeigen, dass du immer noch hier bist.

Link zur Originalquelle (englischsprachig) von Karen Woodal: https://karenwoodall.blog/2020/03/15/covid19-and-your-alienated-child/
(wir danken für die freundliche Unterstützung)

Von Nick:

Ich sehe auch die Auswirkungen von Covid 19 in meiner Praxis, manche Eltern berichten von Verschiebungen in der Abwehrreaktion ihrer Kinder. Es sollte uns vielleicht nicht überraschen, dass in Zeiten erhöhter Besorgnis nähesuchende Verhaltensweisen aktiviert werden. Nolte et al (2011) legen nahe: „die biologisch begründete Aktivierung des Bindungssystems eines Kindes nach einer Notsituation bringt koordinierte Verhaltensweisen mit sich, die darauf abzielen, auf die Stressreaktion durch das Hervorrufen von Aufmerksamkeit und die Gewährleistung von Nähe und Schutz durch Bindungspersonen zu reagieren.“

Mit anderen Worten, Stress und Angst stimulieren die biologische Funktion des Bindungssystems, das wiederum das Potential hat, das Kind mit dem abgespaltenen Objekt zu konfrontieren. Wenn diese Stimulation bei entfremdeten Kindern oder Erwachsenen stark genug ist, oder das abgespaltene Objekt in der Beziehungskonstellation des Kindes ausreichend zugänglich bleibt, kann man davon ausgehen, dass dynamische Veränderung möglich ist. Abgelehnte Elternteile, die sich darauf einstellen, brauchen nicht passiv zu sein und können, wie Karen vorschlägt, Wege finden, um das Veränderungspotenzial zu verstärken, indem sie dem Kind signalisieren, dass sie verfügbar sind und die Wärme und Fürsorge bieten können, die das Kind zu suchen getrieben ist.

Referenzen:
Nolte, Guiney, Fonagy, Mayes & Luyten (2011): Interpersonal stress regulation and the development of anxiety disorders: An attachment-based developmental framework. Frontiers in Behavioural Neuroscience, 5:55

Die beiden Fallstudien aus unserem therapeutischen Workshop liefern reichhaltige Beweise für die Vorteile eines Wechsels des Aufenthaltsbestimmungsrechtes und darüber, wie entfremdete Kinder genesen. In Zusammenarbeit mit Prof. Jennifer Harman von der Universität Colorado werden diese zusammen mit anderen Fällen, an denen wir gearbeitet haben und bei denen die Kinder jetzt über achtzehn Jahre alt sind, ausgewertet, um Erkenntnisse über Genesungswege für entfremdete Kinder zu gewinnen.