"Der Begriff Eltern-Kind-Entfremdung (engl. Parental Alienation) beschreibt ein Phänomen, bei dem ein Kind - meistens eines, dessen Eltern sich in einem konfliktbeladenen Trennungs- oder Scheidungsprozess befinden - sich stark mit einem Elternteil verbündet und eine Beziehung zum anderen Elternteil ohne legitime Begründung ablehnt."
(Lorandos, Bernet und Sauber: Parental Alienation: The Handbook for Mental Health and Legal Professionals, 2013)
Der Begriff bezieht sich nicht auf Fälle:
Eine Eltern-Kind-Entfremdung kann sehr unterschiedliche Ursachen haben. Oft haben Eltern nach einer Trennung Angst, nach dem Partner vielleicht auch noch das Kind zu verlieren. Oder sie haben das Gefühl, dass der Ex-Partner, mit dem sie selbst am liebsten nichts mehr zu tun haben möchten, auch für das Kind nicht gut sein kann. Solche Gefühle können dazu führen, dass das Kind bewusst oder unbewusst dazu getrieben wird, sich zwischen den Eltern zu entscheiden und einen Elternteil zu bevorzugen. Auch Rachegedanken dem Ex-Partner gegenüber können eine Rolle spielen. Ebenso gibt es Fälle, in denen häusliche Gewalt gegen den Partner nach der Trennung über die Kinder fortgeführt wird, d.h. die Kinder werden instrumentalisiert, um weiter Gewalt und Kontrolle über den früheren Partner auszuüben.
Auch hier gibt es sehr unterschiedliche Abläufe. Eine Entfremdung kann bewusst und offen, aber auch sehr subtil und unbewusst ablaufen. Sie kann bereits in einer bestehenden Ehe beginnen oder auch erst nach der Trennung einsetzen. Sie kann innerhalb weniger Wochen oder auch über mehrere Jahre stattfinden und unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Der die Entfremdung vorantreibende Elternteil kann sowohl der hauptbetreuende als auch der umgangsberechtigte Elternteil sein. Sowohl Väter als auch Mütter entfremden Kinder vom anderen Elternteil.
Allen Fällen gemeinsam ist, dass das Kind psychologisch so sehr unter Druck gerät, dass es sich nicht anders zu helfen weiß, als sich für eine Seite zu entscheiden und den anderen Elternteil zu „entsorgen“. Dieser Druck entsteht in der Regel durch einen extremen Loyalitätskonflikt, dem das Kind psychisch nicht mehr gewachsen ist. Er kann durch einen sehr heftig von beiden Seiten ausgetragenen Elternkonflikt entstehen, häufig geht aber der Druck vor allem von einem Elternteil aus.
Die Entscheidung für einen Elternteil und gegen den anderen geht häufig mit einer Parentifizierung gegenüber dem bevorzugten Elternteil einher, d.h. das Kind übernimmt eine Eltern- oder Partnerrolle dem Elternteil gegenüber, den es als den bedürftigeren empfindet. Das führt dazu, dass die gesunde Familienhierarchie aus den Fugen gerät. Das Kind wird auf die Hierarchieebene des bevorzugten Elternteils gehoben und über den abgelehnten Elternteil gestellt, was eine für das Kind sehr ungesunde und schädliche Situation darstellt.
In Fällen von vorausgegangener Partnerschaftsgewalt kommt es auch vor, dass ich das Kind mit dem Gewalt ausübenden Elternteil identifiziert. Dieser Elternteil wird vom Kind als der „Starke“ empfunden, der das Kind besser schützen kann, oder das Kind ordnet sich aus Angst dem gewalttätigen Elternteil unter. Die Gewalt kann dabei körperlicher oder auch rein psychischer Natur sein.
Wenn ein Kind dazu getrieben wird, sich für einen Elternteil und gegen den anderen zu entscheiden, empfindet es zunächst starke Schuldgefühle dem abgelehnten Elternteil gegenüber, da es eigentlich beide Eltern liebt und keinem von beiden weh tun möchte. Um diesen Schuldgefühlen zu entgehen, verwendet das Kind einen psychologischen Abwehrmechanismus, die Spaltung. Der abgelehnte Elternteil wird als komplett böse empfunden, der bevorzugte Elternteil als komplett gut. So kann das Kind vor sich selbst die Ablehnung rechtfertigen und projiziert die Schuld auf den abgelehnten Elternteil.
Verhaltensweisen eines Elternteils, die ein Kind in die Entfremdung treiben können, können z.B. sein:
(Amy J. L. Baker and S. Richard Sauber: Working with Alienated Children and Families: A Clinical Guidebook (New York: Routledge, 2013), 95-97)
Nicht jedes Kind, das Besuche beim anderen Elternteil ablehnt, ist entfremdet im Sinne einer Eltern-Kind-Entfremdung. Es gibt auch Fälle, in denen ein Kind Besuche bei einem Elternteil aufgrund anderer Gründe ablehnt. Eine solche Ablehnung kann z.B. durch Probleme mit einem neuen Partner des Elternteils, aufgrund von Pubertätskonflikten oder, im Extremfall, aufgrund von Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung durch den Elternteil entstehen. Diese Ablehnung ist jedoch nicht kategorisch, sondern an die problematischen Verhaltensweisen des Elternteils gebunden und geht nicht mit einer Idealisierung des bevorzugten Elternteils einher.
Eltern-Kind- Entfremdung im Sinne dieser Seite kann anhand der folgenden Kriterien von anderen Ablehnungsursachen abgegrenzt werden:
(Amy J. L. Baker and S. Richard Sauber, editors, Working with Alienated Children and Families: A Clinical Guidebook (New York: Routledge, 2013), 62)
Die Entfremdung von einem liebenden Elternteil, zu dem das Kind vormals eine gesunde und gute Beziehung hatte, ist für ein Kind eine traumatische Erfahrung. Das Kind erlebt einen Bindungsabbruch und wird zudem dazu getrieben, einen Elternteil als „böse“ zu betrachten, von dem es 50% seiner Gene geerbt hat, so dass es quasi auch sich selbst als zur Hälfte „böse“ ansehen muss. Dazu kommt, dass das Kind dem abgelehnten Elternteil gegenüber Schuldgefühle hat, die es zwar verdrängt und auf den Elternteil projiziert, die aber im Unterbewusstsein weiter wirken und so das Selbstwertgefühl des Kindes zusätzlich untergraben.
Dazu kommt, dass das Kind mit dem bevorzugten Elternteil in der Regel eine symbiotische Bindung eingeht, die es dazu bringt, seine eigenen Bedürfnisse zugunsten der Bedürfnisse des Elternteils zurückzustellen. Das hat gravierende Folgen für die Entwicklung des Kindes und Auswirkungen auf dessen spätere Beziehungen.
Wenn eine solche Situation nicht beendet wird und schlimmstenfalls über viele Jahre bis ins Erwachsenenalter andauert, kann dies für das Kind dramatische Folgen haben. Dazu können gehören:
Darüber hinaus hat die Entfremdung auch für den abgelehnten Elternteil gravierende Folgen, die sich in psychosomatischen Beschwerden, posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen bis hin zum Suizid äußern können.